Hamburg, Hauptkirche St. Nikolai
Alt? Oder neu? Oder super? Oder was?
Einweihung am 9. April 2023
Bei NDR Kultur als millionenschwere Super-Orgel angepriesen, wurde am Ostersonntag 2023 die (fast) neue Orgel der Hauptkirche St. Nikolai am Klosterstern eingeweiht. Doch was verbirgt sich hinter diesem zugegebenermaßen ein wenig sensationsheischenden Etikett?
Prospektdetail "der Bug"
Im Gegensatz zu Hamburgs übrigen Hauptkirchen war St. Nikolai immer für einen Rekord und ein Unglück gut. Der ursprüngliche gotische Kirchbau war nach meherern Erweiterungen mit über 1500 Plätzen ab ca. 1400 die größte Kirche der Hansestadt. 1518 folgte mit 135 Metern der höchste Kirchturm Hamburgs und dritthöchste der damaligen Welt. 1589 wurde er durch Blitzschlag vollständig zerstört. Der Nachfolger von 1593 fiel 1644 einem Unwetter zum Opfer. Der dritte Turm maß immerhin noch 122 Meter und hielt ein wenig länger. In den Jahren 1682 bis 1687 baute Arp Schnitger hier seine größte Orgel, die zur Zeit der Einweihung auch die größte der Welt war. Beim großen Stadtbrand von 1842 blieb von Turm, Kirche und Orgel nur ein rauchender Trümmerhaufen zurück.
1. Turm 1518-1589 │ 3. Turm 1657-1842 │ 4. Turm 1863-1943
(Quelle: wikipedia)
Die neue Nikolaikirche, entworfen vom englischen Stararchitekten George Gilbert Scott, wurde 1863 eingeweiht. Der neugotische Bau war mit seinem 147 Meter hohen Turm erneut das höchste Bauwerk der Welt – wenn auch nur für 14 Jahre. Die Höhe des Turms wurde der Kirche 1943 dann zum Verhängnis, als britische Bomber ihn als Zielmarke für ihre Luftangriffe auf Hamburg nutzten. Die Kirche brannte vollständig aus, die Gewölbe stürzten ein.
4. Turm 1943-1951 │ 4. Turm seit 1951 │ 5. Turm seit 1962
Nach dem Krieg entschloss man sich, die Kirche nicht am alten Platz wieder aufzubauen. Turm und Chorwände wurden gesichert, die übrigen Reste gesprengt und beseitigt. Als Platz für den Neubau wählte man ein Grundstück am Klosterstern in Harvestehude. Der moderne Kirchbau, entworfen von Dieter und Gerhard Langmaack, wurde 1962 eingeweiht. Für diesen dritten Kirchenbau entwarf Gerhard Langmaack einen Orgelprospekt, der das Motiv von Schiffsbug und -segeln aufgreift. Konzipiert wurde das neue Instrument von Ernst Karl Rößler, einem der Gurus der Orgelbewegung, und gebaut von der Kölner Werkstatt Willi Peter.
frisch polierter Prospekt mit neuem Spieltisch
Entgegen der Rößlerschen Konzeption baute Peter elektrische Trakturen, da räumliche Situation und zur Verfügung stehender Platz für die projektierten 63 Register nicht unproblematisch waren. 1966 eingeweiht, war die neue Orgel mit ihren teils avantgardistischen Klangfarben ein Leuchtturm in der Nachkriegs-Orgelwelt. 20 Jahre später betrachtete man das Orgelwerk deutlich weniger enthusiastisch und nahm erste Änderungen vor. Diesen sollten bald weitere folgen.
der neue Arbeitsplatz
Nach der Jahrtausendwende wurde die Notwendigkeit einer grundlegenden Überarbeitung unübersehbar. Dies eröffnete die Möglichkeit, das ursprüngliche Konzept und die bisherige Entwicklung gründlich zu durchdenken. Am Ende stand die Quadratur des Kreises – sowohl eine Rückbesinnung mit der Wiederherstellung der originalen Disposition, wie auch eine Fortschreibung als Instrument des 21. Jahrhunderts mit neuen spieltechnischen Möglichkeiten und Klangfarben. Und das alles mit den schon von Rößler gewünschten aber damals als unrealistisch eingestuften mechanischen Spieltrakturen.
der angebaute Spielschrank
Also bekam der Kreis die gewünschten Ecken. Die Originaldisposition wurde wiederhergestellt, unterdessen verlorene Rößler-Farben wie Sextade und Un-Tredezime rekonstruiert. Die ursprünglichen fünf Teilwerke – Rückpositiv, Hauptwerk, Schwellwerk, Kronwerk und Kleinpedal – erhielten mechanische Spieltrakturen. Der neue Spielschrank ist unter dem Hauptwerk eingebaut. Neue Windladen erlaubten die Erweiterung des Tonumfangs auf 58 Töne im Manual und 32 im Pedal.
Emporenzugang hinter dem mechanischen Spieltisch mit Fenstern – für den besseren Durchblick
Zum ursprünglichen Konzept hinzugefügt wurden ein Chor(schwell)werk zur Verbesserung der Begleitfähigkeit, ein Großpedal für das 1966 schwach ausgefallene Fundament, ein Solowerk mit zwei durchschlagenden Zungen, ein Antiphonal über dem Haupteingang, Aliquoten für die bunte Mischung (aus drei Pfeifenreihen mit spezieller Stimmung) und zahlreiche Schlagwerke für das notwendige Tschingderassabum. Das Ergebnis hätte Herrn Rößler sicher mehr erblassen lassen als die Polizei – Eingeweihte wissen Bescheid!
Blick vom Kronwerk auf das neue Antiphonal
Durch die Integration weiterer Teilwerke in das ursprüngliche Konzept war eine mechanische Anbindung der neuen Windladen nicht möglich. Aus der Not wurde kurzerhand eine Tugend gemacht: Das Chorwerk erhielt eine selbst entwickelte proportionale elektrische Traktur, die tatsächlich eine feinere Kontrolle der Ventilöffnung ermöglicht, als dies eine druckpunktbehaftete Mechanik könnte. Vier Register wurden mit einer dynamischen Registersteuerung ausgestattet, bei der der Schleifengang über separate Drehregler geregelt und begrenzt werden kann. Durch speziell geformte und dimensionierte Schleifenbohrungen ergibt sich ein großer Regelbereich.
Registratur rechte Seite, ganz unten die regelbaren Pizzicato-Koppeln
Tritte für das Schlagwerk
Winddrücke sind für alle Teilwerke separat und in cumulo regelbar bis hin zum Überdruck. Pizzicato-Koppeln erlauben unerhörte Effekte. Zahlreiche gestimmte und ungestimmte Schlagwerke ergänzen die klassische Klangwelt der Orgel. Und weil man nun endlich die Mechanik auf der Empore hatte, gönnte man sich lustvoll noch den fahrbaren Konzertspieltisch im Kirchenschiff – natürlich elektrisch, aber mit denselben unglaublichen Möglichkeiten.
der fahrbare Spieltisch
Im Innern findet sich kaum eine neue oder aufpolierte Pfeife, die nicht den Namen eines Sponsors trägt. So ist die neue Orgel wahrlich eine Gemeindeorgel, eine Orgel von der und für die Gemeinde. Die ersten Konzerte zeugen jedenfalls von großer Begeisterung. So hat die Orgel der Hauptkirche St. Nikolai ihre Leuchtturm-Position in der Hamburger Orgelszene und weit darüber hinaus zurückgewonnen.
Konzertspieltisch mit Antiphonal im Hintergrund
Und hier noch einige Impressionen aus dem Innern der Orgel:
Blick vom Kronwerksturm mit dem ZImbelstern auf Hauptwerk und Kleinpedal
Blick vom Schwellwerk auf Solo und Großpedal…
.. und in umgekehrter Richtung über Solo und Großpedal auf das Schwellwerk
(Saxophon in Kupfer, Klarinette in Zinn)
das neue aufgebänkte Cornett im Hauptwerk
das originale Rohrkrummhorn im Rückpositiv – dünnes Rohr im dicken Rohr, eine Rößler-Kreation
die originale Rohrtraverse im Pedal – eine weitere Rößler-Schöpfung:
überblasende Rohrflöte mit Notausgang
im erneuerten Schwellkasten des Schwellwerkes
die Vox humana im Chorwerk – im Schwellkasten im Schwellkasten
und so kommt man zum Stimmen dran
das ungestimmte Schlagwerk – wie Trommeln auf der Stange