St. Petersburg/RU, Philharmonie, Bolschoi-Saal
Die Wiederbelebung der Walcker-Substanz in der St. Petersburger Philharmonie
Die Firma E. F. Walcker & Cie. in Ludwigsburg (Deutschland) hat zwischen 1890 und 1915 zahlreiche europäische Konzertsaalorgeln gebaut. Einige sind bis heute erhalten, andere sorgfältig dokumentiert. Die 1903 gebaute Orgel für die Aula der Gynäkologie zu St. Petersburg gehört in diese Reihe. Hier eine Auswahl von Konzertsaal-Orgeln, welche Walcker zwischen 1900 und 1912 in Konzertsälen gebaut hat, die hinsichtlich des Raumvolumens mit der Philharmonie in St. Petersburg vergleichbar sind; außer Baujahr, Opus- und Registerzahl sind auch die Klaviaturumfänge angegeben:
Warschau, Philharmonie 1901 op. 923 III/43 C–a³ und C–f1
München, Kgl. Odeon 1906 op. 1233 III/64 C–a³ und C–f1
Hamburg, Musikhalle 1908 op. 1328 III/74 C–a³ und C–f1
Barcelona, Musiksaal Orféo Català 1907–08 op. 1353 IV/63 C–c4 und C–f1
Berlin, Blüthner-Saal 1908 op. 1389 III/61 C–a³ und C–f1
Graz, Stephaniensaal 1907–08 op. 1433 III/52 C–a³ und C–f1
Stuttgart, Konservatorium 1911 op. 1633 IV/70 C–a³ und C–f1
Gera-Reuss, Konzertsaal 1911 op. 1638 III/50 C–a³ und C–f1
Berlin, Philharmonie 1912 op. 1696 III/53 C–c4 und C–f1
1. Zur Geschichte der Orgel der Philharmonie
1903 Bau durch die Firma E. F. Walcker & Cie. als op. 1100 für das Kaiserliche klinische gynäkologische Institut zu St. Petersburg. Pneumatische Kegelladen, Spieltisch an der rechten Seite, das ganze Werk in Schwellkasten, III/45 und 2 Transmissionen.
1910 Erweiterung durch die Firma Walcker um die Register Scharff 11/3’ und Clairon 4’ (I. Man.), Trompete 8’ (III. Man.), Posaunenbass 16’ und Cornett 51/3’, 31/5’ (Pedal) auf 50 Register und 2 Transmissionen.
1914 Pläne, das Orgelwerk um drei Zungenstimmen zu ergänzen (Basson 16’ und Klarine 4’ III. Man., Trompete 8’ Pedal) werden nicht verwirklicht.
1931 Versetzung der Orgel (möglicherweise durch Mitarbeiter der Firma Walcker selbst oder zumindest unter Beteiligung ehemaliger Mitarbeiter) unter Überwachung durch G. Kujat in den Großen Konzertsaal der Philharmonie zu St. Petersburg. Dabei Entfernung des Schwellers für das gesamte Werk.
1936 Verlegung des Spieltischs von der rechten Seite nach vorn, Versetzung der Orgel weiter nach hinten.
1972 Umbau und Erweiterung durch die Firma Rieger-Kloss/Jägerndorf (Tschechoslowakei), neue elektrische Kegelladen. Von der Walcker-Orgel bleiben über 30 Register erhalten, allerdings teilweise versetzt und stark verändert. Die Disposition wurde aufgestellt unter Leitung von I. Braudo. Die Kollaudation fand am 30. 9. 1972 statt, beteiligt waren daran Z. Strishawa, A. N. Kotljarewski, N. Oksentjan, L. Digris u. a.
2. Der Befund
Die Orgel wurde durch unsere Werkstatt im April 1999, im Juni 2001 und im Januar 2003 gründlich untersucht. Dabei konnte auch der Orgelpfleger Justin Pronzketis befragt werden, der die Orgel seit mehr als 40 Jahren betreut und den von 1931 bis 1972 bestehenden Zustand noch gekannt hat. Was fanden wir vor?
Ein 1972 durch Werkstatt Rieger Kloss (Krnov/Jägerndorf, Tschechische Republik) in wesentlichen Teilen erneuertes Orgelwerk mit einer Gehäusefassade aus dem Jahr 1972 aus weiß gefassten Holzteilen (zu einem großen Teil furnierte Plattenwerkstoffe), neuen Kegelladen und einem fahrbaren elektrischen Spieltisch. Vom Originalbestand existierten noch mehr als 30 Register, allerdings zum Teil versetzt und stark umgearbeitet.
2.1 Die Anlage
Das Instrument gliederte sich in drei Ebenen.
Auf der untersten Ebene befand sich unmittelbar hinter dem Untergehäuse aus senkrechten Holzgitterstäben die Pedallade mit 8’- und kleineren Registern, flankiert von der tiefen Oktave der Register Bourdon 16’ und Konzertflöte 8’ des II. Manuals. Hinter der Pedallade folgte mit Stimmgangsabstand die Unterlade des II. Manuals. Hinter dieser Windlade erstreckte sich, in gesamter Orgelbreite unmittelbar vor der Rückwand, das Pedal, aufgeteilt auf die zwei nebeneinander liegenden Windladen von Großpedal (rechts) und Kleinpedal (links).
Auf der mittleren Ebene stand hinter dem Prospekt die Oberlade des II. Manuals, flankiert von großen Pfeifen der Register Gemshorn 8’, Hohlfloete 8’ und Viola da Gamba 8’ des I. Manuals. Mit Stimmgangsabstand befand sich dahinter die Unterlade des I. Manuals.
Auf der oberen Ebene, zentral im Mittelbereich der Orgel, war hinter dem Prospekt die Oberlade des I. Manuals angeordnet. Mit Stimmgangsabstand dahinter lag der Schwellkasten mit Schwelltüren vorn und oben. Die Windlade des Schwellwerks war in eine vordere und eine hintere Lade geteilt, zwischen denen ein Stimmgang lag. Über dem Diskant der beiden Laden lag eine dritte, mit der Schmalseite nach vorn angeordnete Windlade.
Wahrscheinlich stimmte die Anordnung der Windladen durch Rieger-Kloss mit der von 1931, bei der noch die originalen Windladen verwendet waren, nicht überein.
2.2 Windladen
Die originalen pneumatischen Kegelladen waren 1972 durch neue, elektrisch angesteuerte Kegelladen ersetzt worden.
2.3 Pfeifenwerk
Von dem ursprünglichen Pfeifenbestand waren mehr als 30 Register vorhanden, allerdings teils versetzt und stark umgearbeitet. Im Gebläseraum konnten wir durch einen Hinweis des Orgelpflegers Justin Pronzketis den originalen, seit 1972 nicht mehr verwendete Subbass 16’ finden.
2.4 Windversorgung, Windanlage und Bälge
Der Motor war in einem separaten Abstellraum außerhalb des Saales im rückwärtigen Teil der Philharmonie aufgestellt und durch einen Holzkanal mit dem Instrument verbunden. Im Innern der Orgel gab es noch einige Balgreste der historischen Walcker-Orgel. Es handelt sich hierbei um die Einfaltenregulatoren, wie sie Walcker in zahlreichen seiner Konzertsaalinstrumente verwendet hat. Sie waren jedoch 1972 stark umgearbeitet worden.
2.5 Spieltisch und Trakturen
Von der originalen Spielanlage war nichts mehr vorhanden. Der originale Spieltisch war 1972 aufgegeben und durch einen neuen Spieltisch ersetzt worden. Die pneumatische Traktur war damals durch elektrische ersetzt worden.
Original war das Instrument mit pneumatischer Spiel- und Registertraktur ausgestattet. Davon ist kein originaler Bestandteil mehr erhalten. Beachtenswert ist, dass Walcker im Zeitraum zwischen 1900 und 1910 in einem Umbruch gestanden hat: Mit der zunehmenden Verbreitung des elektrischen Stroms wurden die Spielsysteme elektropneumatisch ausgelegt. Fast ausnahmslos sind die oben angeführten Vergleichsorgeln mit elektropneumatischen Systemen ausgestattet.
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