Hoch

Übersicht

Wiesbaden, Lutherkirche

Restaurierung der Walcker-Orgel von 1911  

 

Anfang des 20. Jahrhunderts stießen der bedeutende Organist Emile Rupp und der berühmte Arzt und Organist Albert Schweitzer eine Reformbewegung im deutschen Orgelbau an. Als einer der Hauptvertreter der sogenannten „Elsässisch-Neudeutschen Orgelreform“ propagierte Schweitzer seit Anfang des 20. Jahrhunderts gegen die damals in Deutschland üblicherweise gebauten Instrumente einen neuen Orgeltyp: Diese Orgel sollte den ausgewogenen Plenum-Klang der französischen spätromantischen Orgel Cavaillé-Colls, die verschmelzungsfähigen Zungenstimmen der deutschen und englischen Romantik und den Obertonreichtum der alten klassischen Orgeln des Elsass („Silbermann-Orgeln“) miteinander verbinden. Eine neue Spieltischgestaltung sollte die Logik und Übersichtlichkeit der französischen Spielanlage und die in Deutschland gebräuchlichen Spielhilfen vereinen (Deutsche und französische Orgelbaukunst und Orgelkunst, Leipzig 1906).

 

Vor allem im Elsass wurden mehrere Orgeln nach Schweitzers Vorstellungen realisiert. Die größten dieser Reformorgeln entstanden aber in Deutschland in Zusammenarbeit mit der renommierten Orgelbaufirma Walcker aus Ludwigsburg: in St. Reinoldi, Dortmund (1909, 105 Register,1943/44 zerstört), und St. Michaelis, Hamburg (1912, 163 Register, nach Kriegsschäden 1943 durch den Neubau von 1962 ersetzt). Neben diesen Riesen-Instrumenten mutet die Walcker-Orgel der Lutherkirche mit ihren knapp 50 Registern fast klein an. Da aber die meisten Orgeln dieser Epoche den Kriegen oder dem Wandel des Zeitgeschmacks zum Opfer fielen, ist die Orgel der Lutherkirche eines der größten Instrumente der „Elsässischen Orgelreform“, die in Deutschland noch unverfälscht erhalten sind.

 


 

 

Schweitzers Vorstellungen von der Orgel galten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs mit der zunehmenden Bedeutung der „Orgelbewegung“ zunächst als weitgehend überholt. So wurde auch die Walcker-Orgel der Lutherkirche immer weiter klanglich verändert und das ursprüngliche Konzept verfälscht. Die Orgel wurde „barockisiert“, d.h. mit allerlei Krummhörnern und Zimbeln versehen. Glücklicherweise hat man aber für diese Umbauten die vorhandenen Pfeifen einfach wiederverwendet, so dass es möglich war, bei der großen Renovierung 1986/87 einen Großteil der ursprünglichen Register wiederherzustellen. Nur wenige Register mussten komplett rekonstruiert werden. Den Wert romantisch-symphonischer Instrumente entdeckte man in jenen Jahren neu und es war eine verdienstvolle Tat der beteiligten Firma Klais, der damaligen Orgelsachverständigen Reinhardt Menger und Hans Martin Balz sowie meines Vorgängers Klaus Uwe Ludwig, die Orgel wieder möglichst nah an den Zustand von 1911 zurückzuführen. Leider ging man bei dieser Restaurierung nicht ganz bis zum Ende: der Spieltisch aus den 50er-Jahren wurde beibehalten. Dieser war inzwischen in die Jahre gekommen und erlitt immer häufiger technische Fehlleistungen durch Materialermüdung.

 

Der neue Spieltisch wurde mit Hilfe von Fotos und Vergleichen zu anderen Walcker-Spieltischen der Epoche optisch an das (leider verlorene) Original angenähert. Gleichzeitig wurde aber auch eine hochmoderne Setzeranlage eingebaut, die es dem Organisten ermöglicht, in kurzer Zeit schnell die Registerkombinationen zu wechseln. Dadurch wird er gleichzeitig etwas unabhängiger von Registrier-Assistenten.

 

In den 25 Jahren seit der letzten Renovierung hatten sich im Inneren der Orgel viel Schmutz und Staub angesammelt, so dass sie auch grundgereinigt und viele Register neu intoniert wurden. Dabei konnten Erkenntnisse über den romantischen Orgelbau zu Hilfe genommen werden, die so vor 25 Jahren noch nicht zur Verfügung standen. Deshalb konnte der Intonateur der Firma Klais, Markus Linden, die Orgel klanglich noch näher an das Ideal von 1911 heranführen, mit zum Teil spektakulären Ergebnissen: So wurden beispielsweise die fünf Streichregister der Orgel, die vor der Renovierung recht ähnlich klangen, in Lautstärke und Klangfarbe so variiert, dass der Organist nun über eine größere Klangfarbenpalette verfügt.

 


 

 

Das Cornett des Hauptwerks wurde in den ursprünglichen Zustand zurückgeführt: es ist nun wieder 3-8fach und enthält wieder Septimen, die den Klang aufrauen und der Orgel mehr Strahlkraft geben. Die Trompeten wurden überarbeitet und klingen nun viel runder, aber auch kräftiger.Die Orgel hat nach der Restaurierung deutlich an Volumen gewonnen und ist nun besser in der Lage, den großen Raum der Lutherkirche zu füllen. Möge Sie auch die nächsten 100 Jahre zum Lobe Gottes und zur Freude der Zuhörer erklingen!

 

Jörg Endebrock

 

...zur Disposition